Julia
Schröder
Göritz

Von Matjes, Indien und dem unerschütterlichen Glauben an das Leben

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„Keine Kartenzahlung möglich“ Mist, kaum Bargeld dabei. Ich wühle in meiner Tasche, krame 12,50 Euro zusammen und gehe auf den Eingang zu. Ringsherum flaches Land, Felder, neue Straßen, Schilder, die Autos umleiten und Schilder, die sie stoppen. Mitten in der kahlen Landschaft ein großes Haus, unförmig sieht es aus. Gedrungene Mauern, ein Dach wie eine zu tief in die Stirn gezogene Kappe, ein flacher Anbau, der im Verhältnis größer ist als das ganze Haupthaus. Rote Schindeln, ansonsten viel Blau und Weiß, Fischladenfarben. 

„Fischbrötchen in der Umgebung“ an Neujahr zu finden, ist wie auf eine Tankstelle am Rande einer Landstraße zu hoffen. Doch da ist sie – zwischen Baustellenschildern und frischem Teer ragt das Gebäude heraus. 

Ich drücke die kühle Klinke herunter, es bimmelt neben mir, vor mir ein Tresen mit verschiedenen Fischsorten, ein paar Tische mit Stühlen und Bänken, maritime Deko, Fischernetze, Muscheln, links in der Ecke sitzt ein Seemann aus Holz. Hinter dem Tresen eine Frau, ihr Alter ist schwer zu schätzen, um die Fünfzig, tippe ich. Hellbraune Haare, ein bisschen grau an den Seiten, Zopf, Pony. Groß ist sie, bestimmt 1,75 Meter, sie trägt eine weiße Schürze und eine eckige Brille, durch die mich ungeschminkte Augen freundlich anschauen.
„Moin!“ grüße ich sie.
„Moin! Was darf’s sein?“
Ich schaue auf die Fischbrötchen-Preistafel, zwei Matjes und ein Flammlachs mit Pfeffer sind drin. Sie greift in die Theke und verschwindet nach hinten in die Küche. Ich sehe mich um. Rechts von mir ein durch eine Scheibe abgetrenntes Büro. Darin ein Schreibtisch, den man nicht erkennen kann, da er über die Ränder voll ist mit Zetteln und Belegen, Aktenschränke, ein Telefon. Das sieht nach Arbeit aus und nach einem Chaos, das nur eine Person verstehen kann – und das man auf keinen Fall aufräumen darf, weil man sonst nichts wiederfindet. Der Geruch der geräucherten Fische zieht ein bisschen in der Nase. Nicht schlimm, aber so, dass ich mich doch frage, ob gleich meine Haare und meine Klamotten danach riechen werden.

Sie kommt zurück mit einer Tüte voll Fischbrötchen: „Soooo….!“ Mir fällt etwas ein: „Mensch, ich hab Ihnen gar nicht ein Frohes Neues Jahr gewünscht beim Reinkommen, entschuldigen Sie, total verdaddelt.“
Sie lacht nur und antwortet: „Ach Du, macht doch nix, hab ich auch total vergessen. Ich bin heute schon wieder so im Büromodus, das muss ja alles bald fertig sein.“
Das t bei „fertig“ spricht sie wie doppelt D, ich mag das. Ich zahle – und noch einmal werfe ich einen Blick durch die Scheibe auf die Papierberge, sie folgt meinem Blick: „Oha… das sieht nach Arbeit aus!“, ich greife nach der Tüte und gehe ein paar Schritte Richtung Tür.

„Ja, und da das schnell fertig werden muss, dachte ich – wenn ich eh hier bin, dann kann ich auch den Laden aufmachen“, erwidert sie lachend. 

„Naja, ich muss sagen – Glück für uns, aber für Sie, heute zu arbeiten?“, ich taste nach dem Türgriff.

„Das ist ok, bis zum Elften soll das ja erledigt sein, denn dann geht’s in den Urlaub!“ Sie strahlt. Und sie schaut, als würde sie auf eine Frage warten. Die meisten Menschen suchen nach Antworten. Sie wartet auf Fragen. Ihre Einsamkeit steht neben ihr und schaut mich an.

Kurz der Gedanke an meinen Mann und unseren Hund wartend im Auto, aber beide sitzen trocken und warm – und ich beschließe, die Zeit zu verlangsamen. Meine Hand gleitet von der Klinke und ich drehe mich wieder zu ihr: „Oh, wie schön, Urlaub! Fahren Sie weg?“
„Ja!“, ihre Augen leuchten nun eine Nuance heller, bilde ich mir ein, „am 11.1. sitze ich im Flieger!“ 

Wieder ein Warten. Wieder eine Frage: „Wo geht es denn hin?“

Plötzlich senkt sie die Augen, legt den Kopf etwas schief und zieht die Schultern ein klein wenig nach oben, sie antwortet: „Also ich habe mir da mal was richtig Besonderes gegönnt. Ich war seit 2009 nicht mehr im Urlaub.“ 

Ich schaue sie aufmunternd und fragend an.

„Ich fliege nach Südindien“, sie strahlt.

„Wow! Wie toll!“, entfährt es mir. 

Mit einem Mal steht sie wieder gerade und schaut mir direkt in die Augen. Sie geht um den Tresen herum und steht nun vor mir.

„Ich habe neulich auf Netflix so eine Doku geschaut über die Unterkunft, in die ich auch fahre – und da habe ich mich so gefreut, als wäre ich schon dort.“ 

„Ach, das kann ich gut verstehen, wie schön für Sie, das wird bestimmt ganz großartig!“, antworte ich. 

Sie erzählt weiter: „Weißt Du, mein Mann hat mich 2019 wegen einer anderen verlassen, ich musste in den letzten drei Jahren meine vier Angestellten entlassen, die Baustelle hier um den Laden herum, die schneidet mir immer wieder die Kundschaft ab, die Corona-Auflagen … das waren keine leichten Jahre.“ Sie fährt fort: „Und 2019 habe ich beschlossen, all mein Trinkgeld konsequent zur Seite zu legen, um eine Reise zu machen. Um mal etwas zu machen, bei dem es nur um mich geht. Nicht am Haus arbeiten – das habe ich nämlich von meinen Eltern geerbt – nicht im Laden stehen … nur um mich.“ 

„Was für ein guter Entschluss“, nicke ich ihr zu. 

„Im Oktober habe ich das Geld gezählt – und was soll ich sagen? Ich hatte es zusammen. Es war so viel – ich habe direkt gebucht!“, lacht sie. 

Ich lache mit: „Fantastisch!“ 

„Ja, und ich weiß, das ist alles sehr luxuriös, was ich da mache, ich meine drei Wochen Südindien, aber das ist echt ein Traum …“, sagt sie. 

„Den Sie sich selbst erarbeitet haben“, ergänze ich. „Das ist doch toll! Ich freue mich sehr für Sie!“ 

Sie schaut ohne Ziel an die Decke: „Ja, ich glaube auch nicht, dass die Dinge einfach nur so geschehen, ich meine – vielleicht hält das Leben noch irgendwas für mich bereit.“ 

Tief atme ich ein und betrachte sie. Da steht ein Mensch vor mir, der in den letzten drei Jahren so viele Nackenschläge kassiert hat – und glaubt an das Leben.

„Mit der Einstellung bin ich mir sicher, dass Sie eine fantastische Zeit haben werden, genießen Sie das, wer weiß, was Ihnen dort alles Wundervolles begegnet“

Wir schauen uns einen Moment an. 

„So, nun habe ich aber genug gesabbelt“, sagt sie schnell.

„Ich danke Ihnen für Ihre Geschichte“, erwidere ich.

„Danke“, lächelt sie, „und kommt gut nach Hause – fahrt vorsichtig, die rasen hier manchmal wie die Bekloppten“ 

„Vielen Dank, machen wir. Eine gute Reise wünsche ich Ihnen.“ Es bimmelt neben mir, ich mache einen Schritt raus in die kühle Luft, hinter mir fällt die Tür ins Schloss.

Wenn wir Menschen begegnen, dann treffen wir sie in Räumen. In Räumen mit Wänden wie Drogeriemärkte oder Fischläden, Schuhgeschäfte oder Wartezimmer, aber auch in ihren emotionalen Räumen, ihren Erinnerungen, ihrer Trauer und ihrem Glück. 

Immer wenn uns ein anderer Mensch an seinen Gedanken teilhaben lässt, öffnet er oder sie uns eine Tür und lässt uns herein. Manchmal nur bis in die Diele, manchmal werfen wir einen Blick in den Keller, manchmal sehen wir das ganze Haus. 

Und immer dann, wenn uns jemand etwas von sich erzählt, wenn uns jemand hereinbittet, dann kann Nähe entstehen – wenn wir nur zuhören. Ob mit engen Freunden, Bekannten oder Fremden, wir werden für einen Moment Teil ihrer Geschichte.
Nicht immer bleiben wir für lange, manchmal bittet uns jemand nur ein einziges Mal herein und manchmal bleiben wir nur kurz und schließen danach für immer die Tür hinter uns. Doch jeder einzelne, noch so kurze Schritt über eine Türschwelle in die Geschichte eines Menschen ist kostbar und ist es Wert, dass wir uns die Zeit nehmen, bei ihm zu verweilen und hinzuhören.

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