Julia
Schröder
Göritz

Kolumne – Gedankenkiosk

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Vizefreitag und Tage wie eine Ikea-Montageanleitung. Der Inhalt der Packung ist deutlich, die Struktur völlig klar. Doch dreht man ein einziges Teil in die falsche Richtung, geht es nicht weiter oder muss demontiert werden – und man beginnt von vorn. 

In der Praxis einige Menschen, die einen Plan für ihr Leben in sich trugen – und aufgrund eines Teils alles auseinandernehmen und von vorn beginnen müssen. Viele Tränen diese Woche, und dann dieser kleine Funke von „Ich weiß, wie das geht – aufstehen“, und die Schwere wird löcherig und lässt etwas durchscheinen, in kleinen Schritten wird es heller. Manchmal reicht die Gewissheit „Das Gefühl wie es jetzt ist, das bleibt nicht so. Es geht vorbei.“

Für den älteren Mann vor meiner Tür geht es nicht vorbei. Mit dem Handfeger Spinnennetze entfernend, die meine Post verhindern wollen, höre eine Stimme hinter mir: „Was ist das hier?“ Viele aus der Nachbarschaft bleiben stehen und fragen. „Ah, eine psychologische Praxis. Der, der meiner Frau die Tabletten verschrieben hat, hat aufgehört – und der andere ist auf was ganz anderes spezialisiert…“ Sechs Jahre leben sie damit, drei Jahre Klinik. 
Wir schauen uns an, ich warte, zuhören bedeutet auch, Stille zuzulassen. Seine Augen schimmern, „Die ganzen Jahre schon, das ist wirklich …“, er dreht abrupt ab und geht mit gesenktem Kopf weiter. Aushalten. Auch darum geht es manchmal. Ein Teil in die falsche Richtung und die innere und äußere Struktur fliegen auseinander.

Die Sonne scheint, Hummeln und Bienen haben in unserem Garten einen HotSpot ausgerufen – der „Place to be“ in Rahlstedt für alles, was summt. Wie die Atmosphäre im Schanzenviertel – Gläserklirren, Lachen, Stimmen – hundert Gespräche in drei Sekunden, meine Augen fliegen, scannen, meine Ohren fühlen sich an wie ein altes Radio, welches nach einem Sender sucht. Wie im Film jetzt einmal auf Stopp drücken können – Freeze. Innehalten, Stille, einmal Überblick verschaffen. Doch keiner macht mit. Sie fügen sich in eine Melodie aus Worten, Tönen und Geräuschen, die leise beginnt, im Vorüberigehen der Stunden anschwillt, über den Rand läuft, bis sie verebbt. Nichts bleibt, wie es ist. Wie beängstigend. Wie gut.

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