Julia
Schröder
Göritz

Geburtstags-Gedankenkiosk

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Lieber hören statt lesen? Aber gern:


Meine Falten sind heute zum Flashmob verabredet – denn es ist Showtime, Baby! Und Countdown. Und ein bisschen Schwips und Schwuppdiwupp – und dann bin ich schon fast 50. Aber Gemach, Gemach, heute erst einmal 49. Neun-und-vierzig. Mindestens fünf  Gedanken mehr hüpfen in meinem durchtrainierten Hirn auf und ab.

Beginnen wir doch mit der Kategorie „Diese Fragen kann ich mir sparen“ – zum Geburtstag:

„Uuund? Wie fühlt man sich mit 49?“ 

Äh, was? Naja. Warte mal. Wie eine Schnecke auf LSD. Eine Ameise mit Handgepäck. Ein Maulwurf mit Gleitsichtbrille. Ok, Schluss. Was wäre eine gute Antwort? Wie mit 48? Ach, weißt Du was? Es kommt drauf an. Vor allem darauf, wer fragt. 

„Hast Du Wünsche für Dein neues Lebensjahr?“

Wieviel Zeit hast Du? Ich wünsche mir nämlich ganz viel. Immer noch. Jedes Jahr wieder. Nicht so amazon-Wunschlisten-viel, aber ich-möchte-mit-dem-Bus-in-den-Süden-fahren-viel. Und ich möchte mal Polarlichter sehen. 
Und noch einmal so eine ganze Wiese mit Glühwürmchen, das war schön, das hält das poetische Herz noch hundert Mal aus. 
Ich möchte meine Bücher endlich zu Ende schreiben, und mehr lesen, mit unserem Hund Lucky über etliche Wiesen rennen, auf den coolsten Konzerten mit meinem Mann die Arme in die Luft reißen. 
Ich möchte unserer Tochter tausend Mal beim Gitarrespielen zuhören, bevor eine andere Familie in den USA nächstes Jahr das große Glück haben wird, sie in ihrem Kreis für 10 Monate Willkommen zu heißen. 
Noch hunderte Mal möchte ich rufen „Hab einen schönen Tag, Großer!“, wenn unser Sohn aus dem Haus geht, bevor er nächsten Sommer das Haus verlässt, denn 2025 – DAS wir ein Jahr. „Ohauaha“, wie wir in Hamburch sagen. Das Jahr, in dem der Zauberwürfel des Lebens noch einmal seine Farben verändert und mir kommen die Tränen vor Herzschmerz und Vorfreude gleichzeitig, wenn ich daran denke. 

Denn die Liste der Veränderungen und die Liste der Pläne sind ebenso lang wie die der Wünsche, denn hey – es ist gerade mal Halbzeit. Da geht noch so einiges. Und irgendwie werden die Zimmer zwar leer sein, aber die Räume deshalb nicht – unsere Kinder werden größer und wir gehen ein paar Stücke des Weges gemeinsam, von anderen lassen wir uns erzählen und gestalten unsere eigenen. Und dann kommen neue Zimmer und neue Umgebungen und Menschen dazu –  und das Leben hält viel bereit, wenn man nur mal aufs Dach klettert und in die Ferne schaut, anstatt am Boden Pflastersteine zu zählen.

Immer wieder lese ich davon, was die guten Seiten des Älterwerdens ausmacht – von dieser Lässigkeit, dieser inneren Ruhe – und ja, in Teilen stimme ich zu. Schulterzucken ist ab 40 zur fast täglichen Fitnessübung geworden, ein bisschen was von „Nicht mein Zirkus, nicht meine Affen“ gepaart mit „Wenn Du ein Problem mit mir hast, kannst Du es behalten. Ist ja Deins.“ Und was ich vielleicht mit 20 eher trotzig behauptete, kann ich heute mit entspannter innerer Überzeugung sagen: 

Ich muss nicht alles machen, was ich kann. 

Perfektion hat etwas mit Mangelfokus zu tun.

Ich kenne wirklich tolle, wunderbare Menschen und bin sehr dankbar für jede und jeden.

Ich habe meine Senk-, Spreiz- und Plattfüße inzwischen verstanden: „Verdammt nochmal, lass das mit den hohen Hacken!!“

Fehler zu machen ist menschlich. 

Es kann mich nicht jede/r mögen. Ich mag auch nicht jede/n.

Aber fast jede Frau hat Cellulite.

Mich zu entschuldigen, wenn ich was verbockt habe, ist Ehrensache.

Für mich einzustehen ebenfalls.

Ich weiß, was ich kann. Und was nicht. 

Es ist wundervoll, dass mein Ehemann auch mein bester Freund ist. 

Echte Verbindungen sind mir wichtig.

Schubladen gehören in Kommoden, nicht in Köpfe.

Ambivalenzen auszuhalten ist wichtig gegen diese Enge in manchen Weltansichten.

Menschen, die mir nicht guttun, lasse ich gehen. 

Ich entschuldige mich nicht mehr für meine laute Lache.

Niemals für meine Tränen.

Und auch nicht dafür, dass ich Jon Bon Jovi am tollsten mit langen, zotteligen Haaren und Leoleggings fand.

Es gibt zwei Sorten Angst: Die lebenserhaltende. Und die lebensverhindernde. 

Humor, Haltung und Intelligenz sind der geistige Waschbrettbauch.

Grämen und Grollen – beides Zeitverschwendung. Hadern erst recht.

Nein, ich muss mir kein dickeres Fell zulegen. Meine dünnes passt mir sehr gut.

Wenn was Blödes passiert: Aufstehen, Knie abklopfen, neu ausrichten. Denn: Was wäre die Alternative?

Und dann gibt es da natürlich die Seite, die manchmal denkt: „WIESO wird das nicht leichter mit fast 50? Warum kratzt mich das/beschäftigt mich das/arbeite ich mich daran immer noch ab?“ Und während ich in Online-Formularen die Geburtsjahreszahl ewig lang scrollen muss, bin ich für kurze Momente wieder 20 und auf einer Party die Einzige in Bikerboots und Jeansweste während die Coolen mit Traininsjacken und Sambas oder im schicken Overall und Pumps herumlaufen – auch solche Tage gibt es noch ab und an mal. 

Und dann kommt mit fast 50 natürlich das ein oder andere Ziehen und Zwicken   – und in der Schulter ziept es dann auch vom ganzen Schulterzucken. ABER: Schampusglas halten geht immer – also hoch damit:

  • Einen Toast auf meinen wunderbaren Mann, meine großartigen Kinder, meine Familie und meine Freunde!
  • einen Toast auf die Jugend! Denn ich begegne so vielen jungen Frauen zwischen Anfang 20 und Ende 30, die ich einfach großartig finde und die sich von patriarchalen Strukturen freimachen und sich erlauben, sie selbst zu sein
  • und einen Toast auf die Männer, die das nicht nur unterstützen, die das ‚mitgehen‘, sondern die gelebte Gleichberechtigung selbstverständlich finden
  • und natürlich einen ganz besonders lauten Toast und ein randvolles, sprudeliges Glas auf all die fabelhaften Frauen über 40! Ihr seid die Geilsten! Cheers, Ladies!

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